Das solidarische Gesicht Mexikos

von Adrian Scholz Alvarado[1]

Wenn ich morgens in Mexiko das Haus verlasse, um quer durch die Stadt zur Universität zu fahren, fehlen nicht die guten Ratschläge meiner Familie, dass ich auf meine Wertsachen aufpassen soll und vorsichtig sein muss, nicht überfallen zu werden. „Si te subes al metro siempre lleva la mochila adelante para que no te roben,“ (Wenn du die U-Bahn nimmst, dann trage deinen Rucksack vorne auf der Brust, damit dich niemand beklaut,) ist ein Satz, den ich schon öfter von meiner Tante gehört habe. Dann stellt sie sich meistens vor mich und malt mit ihrer rechten Hand ein Kreuzzeichen in die Luft, um mich zu segnen, wie es bei vielen Familien in Mexiko üblich ist. Mit meinem Rucksack auf der Brust und mit Gottes Segen im Rücken sind aus der Sicht meiner Tante offensichtlich die Chancen gestiegen, dass das Wunder eintritt und ich es schaffe, die Stadt physisch unversehrt zu durchqueren. Aus Angst vor Überfällen in den öffentlichen Verkehrsmitteln greifen viele Mexikaner_innen im Straßenverkehr lieber auf das eigene Auto zurück. Da ich allerdings kein Auto besitze, bin ich auf diese Verkehrsmittel angewiesen. Ungeachtet der Tatsache, dass es in einer Millionenmetropole wie Mexiko-Stadt dazu kommen kann, dass man sich in den Stoßzeiten in den überfüllten Bussen wie in einer Sardinenbüchse vorkommt, bin ich in den letzten sechs Monaten von der Erfahrung verschont geblieben, überfallen zu werden. Ob es daran liegt, dass ich meinen Beutel wie ein Känguru auf meiner Vorderseite trage, der Segen meiner Tante mich auf eine mir unerklärliche Weise schützt oder die Gefahr, überfallen zu werden, übertrieben dargestellt wird, kann ich nicht beantworten.
Mit ihrem sorgenvollen Blick hätte meine Tante mich sicherlich gerne schon öfter wieder zurück nach Deutschland teleportiert. Zurück in ein Land der Ersten Welt, wo die Menschen aus ihrer Sicht Korruption und Diebstahl vermutlich nur aus Erzählungen kennen. Zu meiner Freude konnte ich im Gegensatz zu den Warnungen meiner Familie in den Handlungen der Mexikaner_innen trotz aller Probleme, die eine Großstadt hat, das solidarische Gesicht der Alltagskultur des Landes kennenlernen. Mit Interesse verfolge ich, wie die Menschen sich in den grün-weißen Kleinbussen des öffentlichen Verkehrs beim Bezahlen helfen. Diese Busse werden von der mexikanischen Bevölkerung als Peseros bezeichnet, da eine Fahrt früher genau einen Peso kostete. Der Peso ist die mexikanische Währung. Steigt ein Fahrgast zur Hauptverkehrszeit durch die Hintertür ein, könnte es leicht passieren, dass der Busfahrer den neuen Fahrgast übersieht und dieser die Situation ausnutzt und versucht, in den Genuss eines kostenlosen Transports zu kommen. Bislang konnte ich jedoch vielmehr mit ansehen, dass der neue Fahrgast sofort eine Münze aus der Tasche kramt und sie dem Passagier in die Hand drückt, der in der Fahrgemeinschaft neben ihm steht. Dieser gibt die Münze erneut an den nächsten Fahrgast weiter bis die Münze über eine spontan gebildete Menschenkette den Busfahrer erreicht, der das Wechselgeld auf demselben Weg wieder zurück an den Absender schickt, ohne dass auch nur ein Teil des Geldes auf dem Weg verloren geht. Diese Ehrlichkeit konnte ich auch beim Bezahlen an den Imbissständen beobachten, die auf den Straßen Mexikos Tacos anbieten. Zu meiner Überraschung musste ich häufig feststellen, dass ich in den Momenten, wenn ich zahlen wollte, von den Verkäufer_innen gefragt wurde, wie viele Tacos ich denn gegessen hätte. Offenbar hatten sie sich meinen Verzehr nicht notiert und vertrauten meiner Antwort. Wie ist es möglich, dass einerseits das Misstrauen und die Angst gegenüber der eigenen Gesellschaft in Mexiko so groß ist, dass die Menschen sich in Gated-Communities und ihren PKW zu verbarrikadieren versuchen und andererseits alltäglich die Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Solidarität der Menschen zu spüren ist?
Das Misstrauen gegenüber der eigenen Gesellschaft sitzt tief in Mexiko. Wirtschaftskrisen, Drogenkriege, Korruptionsskandale, um nur einige Probleme zu nennen, haben die mexikanische Gesellschaft gespalten und stark verunsichert. Das Vertrauen in die Politik ist fast komplett verschwunden und die Frustration über die soziale Lage und politische Kultur des Landes ist groß. Bis jetzt ist mir in Mexiko noch niemand begegnet, der der Meinung ist, dass die führenden Politiker_innen die Interessen der Bevölkerung vertreten. Vielmehr wird ihnen Egoismus, Ignoranz und Korruption unterstellt. Das Gefühl des Not my president ist in diesem lateinamerikanischen Land nicht erst seit dem letzten Jahr bekannt. Der Unterschied zu den USA liegt vielleicht darin, dass hierzulande auch keiner mehr wirklich erwartet, dass my presindent demnächst die politische Bühne betritt. In den Gesprächen, die ich mit den Mexikaner_innen führe, beschreiben viele von ihnen das Land als eine gespaltene Gesellschaft, in der die Empathie für die Lebensrealitäten ihrer Mitmenschen fehle. Zu unterschiedlich seien die Erfahrungen, die die Menschen in ihrem jeweiligen Umfeld machen. Es drängt sich die Frage auf: Aus wie vielen Gesellschaften besteht Mexiko? Und ist es möglich, dass sich in Mexiko eine politische Kultur der Solidarität entwickelt, die allen in Mexiko zugutekommt?
Im September dieses Jahres wurde das Land von schweren Erdbeben erschüttert. Insbesondere das Beben am 7. September, das die Bundesstaaten Oaxaca und Chiapas getroffen hat, und das Beben am 19. September, von dem vor allem die Bevölkerung in Mexiko-Stadt, Morelos und Puebla betroffen war und ist, haben große Schäden angerichtet. Aufgrund dieser Naturkatastrophen sind Medienberichten zufolge mehr als 300 Menschen ums Leben gekommen, zahlreiche Gebäude sind eingestürzt oder können nicht mehr betreten werden, da weiterhin eine Einsturzgefahr besteht.[1] Viele Menschen haben von heute auf morgen Familienangehörige und/oder ihr Zuhause verloren und stehen angesichts des Ausmaßes der zerstöririschen Kraft dieser Erdbeben unter Schock.
Rettungsarbeiten in einem eingestürzten Gebäude in Mexiko-Stadt
(Foto: Heriberto Carrera Vázquez)

Es war in diesem Moment der Krise, als Mexiko erneut sein solidarisches Gesicht zeigte. Die Reaktionen der Bevölkerung auf die Zerstörung sind beeindruckend. Überall kamen die Menschen zusammen, um sich gemeinsam in der Not beizustehen und sich gegenseitig zu helfen. Medizinische Behandlungszimmer wurden auf der Straße eingerichtet, um sich um die Verletzten kümmern zu können, die Bevölkerung organisierte Nahrungsmittel und Medikamente, Imbissverkäufer boten ihre Lebensmittel kostenlos an, um die Betroffenen und Helfenden zu versorgen. Diejenigen, deren Häuser verschont geblieben sind, boten bei sich zuhause Schlafplätze an, um den betroffenen Menschen eine Unterkunft zu geben. Besonders körperlich anstrengend war das Wegräumen der Trümmer der eingestürzten Häuser, um Überlebende zu retten. Schafften es die Rettungskräfte beispielsweise, Kontakt zu einem Menschen aufzubauen, der unter den Trümmern begraben lag, streckten sie die Faust in die Luft. Das war das Zeichen, dass alle ruhig sein mussten, um die Kommunikation zu dem/der Verschütteten zu ermöglichen oder auch um neue Anweisungen erhalten zu können und die Bergungsarbeiten zu organisieren. Ebenso wurde die Faust in die Luft gestreckt, wenn die Rettungsarbeiter_innen unter den eingestürzten Gebäuden einen Mitmenschen entdeckten, der das Erdbeben nicht überlebt hatte. Mitten in den Trümmern dieser Millionenmetropole, von der so oft behauptet wird, dass sie kurz davor ist, im Chaos zu versinken, stehen hunderte von Rettungskräften und freiwilligen Helfer_innen dicht beieinander in völliger Stille, um im Schweigen ihrer Verstorbenen zu gedenken und den Hinterbliebenen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. 
Helfer_innen heben die Faust, um das Zeichen für Ruhe zu geben
 (Foto: Heriberto Carrera Vázquez)

Die Erdbeben haben in Mexiko schwere Schäden verursacht und zu viel Leid geführt. Die Reaktionen der Mexikaner_innen, ihre bedingungslose Hilfe für ihre Mitmenschen, hat unsere Herzen berührt. Eine besonders prägende Erfahrung war für viele Menschen in den betroffenen Gebieten, wie viele ihrer Mitbürger_innen sofort kamen, um ihre Hilfe anzubieten. Um genug Freiwillige für die Rettungsteams zusammenzubekommen, wurde über die sozialen Medien nachgefragt, wer helfen kann. Twitter und Facebook wurden als Plattformen genutzt, um sich zu organisieren, zu trösten und Mut zuzusprechen. Die Menschen, die kamen, um ihre helfenden Hände anzubieten, mussten häufig zu ihrer Überraschung feststellen, dass ihre Hilfe nicht mehr benötigt wurde. An den betroffenen Orten sind in kürzester Zeit so viele Freiwillige eingetroffen, dass die Neuankömmlinge mit ihrem Rucksack auf dem Rücken, den sie vorher in Apotheken und Supermärkten mit Lebensmitteln und Medikamenten gefüllt hatten, zum nächsten Ort weiterfahren mussten, an dem möglicherweise ihre Hilfe noch benötigt wurde.
Freiwillige Helfer_innen organisieren sich bei den Bergungsarbeiten
(Foto: Heriberto Carrera Vázquez)

Auch vier Wochen nach der Naturkatastrophe versuchen die Menschen, ihren Beitrag zu leisten und die besonders stark betroffenen Gemeinden zu unterstützten, sei es durch kleinere Hilfeleistungen, wie bei sich zuhause die Wäsche der Menschen zu waschen, die ihre Häuser verloren haben, mit den Kindern, die noch nicht zurück in ihre Schulen können, spielerische und künstlerische Aktivitäten zu veranstalten oder Menschen bei sich zuhause aufzunehmen. Vielleicht auch gerade weil das Misstrauen in die eigene Regierung so groß ist, wurden die Helfer_innen von dem Gefühl angetrieben, dass es auf die Zivilgesellschaft ankommen wird, um dieser Krise gemeinsam entgegenzutreten. Es verwundert von daher wenig, dass in dem Moment, in dem die Mexikaner_innen die Solidarität ihrer Mitmenschen spüren, auch Emotionen ausgelöst werden, die die Menschen hierzulande schon lange belasten. Im Internet werden derzeit Videos verbreitet, in denen sich die Mexikaner_innen sinngemäß zurufen: „Das Mexiko, das wir gerade erleben, das ist das wahre Mexiko, nicht das Mexiko der korrupten Politiker_innen, die sich nur bereichern wollen und uns im Stich lassen.“ Angesichts der Erfahrung, gemeinsam Krisen zu bewältigen, entdeckt die mexikanische Gesellschaft erneut ihre Stärke. Überall wird die Sehnsucht spürbar, sich endlich im Vertrauen zu begegnen, keine Nation zu sein, über die sich die Filme in Hollywood lustig machen, die darauf reduziert wird, faul zu sein, Tequila zu trinken und auf einem Esel mitten in der Wüste an Kakteen vorbeizureiten. Die Menschen in Mexiko wollen endlich wahrgenommen werden, wie sie sind, und nicht auf diejenigen reduziert werden, die sie auf der politischen Bühne repräsentieren. Aus diesem Grund organisieren sich derzeit einige Helfer_innen nicht nur, um die Schäden der Erdbeben zu beseitigen, sondern um Gruppen zu bilden und darüber zu diskutieren, welche politischen Konsequenzen aus den Erfahrungen der letzten Wochen gezogen werden können und welche nachhaltigen politischen Veränderungen möglich sind, jetzt, wo die Zivilgesellschaft in Mexiko ihren Zusammenhalt demonstriert.
Ob die Erdbeben hierzulande letztlich auch ein politisches Beben zur Folge haben werden, wird sich erst mit der Zeit herausstellen. Der September war schon immer ein Monat mit großer symbolischer Bedeutung in Mexiko. Einerseits wurde das Land vor zweiunddreißig Jahren, am 19. September 1985, ebenso von einem Erdbeben getroffen, das mit mehreren tausend Todesopfern bislang die größte Naturkatstrophe im Lande war. Andererseits ist es der Monat, in dem jedes Jahr die mexikanische Unabhängigkeit von der spanischen Krone vor mehr als 200 Jahren gefeiert wird. Etwas ungewöhnlich ist, dass am Unabhängigkeitstag, dem 15. September, nicht das Ende, sondern der Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges gefeiert wird. Vielleicht ist es einfacher, den Tag festzulegen, an dem die Menschen begonnen haben, um ihre politische Selbstbestimmung zu kämpfen, als den Tag auszumachen, an dem die Selbstbestimmung tatsächlich erreicht wurde. Dieses Datum ist für viele Mexikaner_innen offensichtlich noch offen. Vielleicht wird das Erdbeben dazu führen, dass dieser Tag ein Stück näher rückt. Vielleicht werden sich die Menschen in Mexiko mit der Zeit bewusst, dass sie nicht nur in Zeiten der Krise solidarisch sind, sondern ihr solidarisches Gesicht sich Tag für Tag in ihren kleinen Alltagshandlungen zeigt, und dass sie auf diese Stärke selbstbewusst bauen können.
Feuerwehr beim Einsatz in Mexiko-Stadt (Foto: Heriberto Carrera Vázquez)


Berlin, 20. Oktober 2017

Zu meiner Person: Ich promoviere seit Oktober 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin im Studienfach Soziologie. Der vorläufige Titel meiner Promotion lautet „Habitus-Typen und soziale Milieus in Mexiko. Eine qualitative Studie“. Als Deutsch-Mexikaner, der in beiden Ländern gelebt hat, bin ich zweisprachig aufgewachsen und habe mich schon früh für die sozialen, kulturellen und ökonomischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Mexiko interessiert. Parallel zu meiner Promotion arbeite ich als freier Mitarbeiter für das SINUS-Institut für Markt- und Sozialforschung. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem SINUS-Institut ist die Idee entstanden, einen Blog über Mexiko zu verfassen, der es den Leser_innen ermöglicht, sich ein differenziertes Bild über Mexiko zu machen und mehr darüber zu erfahren, welche Themen die Menschen in diesem Land derzeit bewegen und wie aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in Mexiko wahrgenommen werden.

Alle Blog-Beiträge sind zu finden unter: http://scholzalvarado.blogspot.mx/


[1] Alle Bilder in diesem Blog-Artikel stammen aus dem Fotoarchiv des mexikanischen Fotografen Heriberto Carrera Vázquez. Seine Fotografien sind unter anderem auf folgenden Webseiten zu finden: https://m.facebook.com/heribertocarreraDOBER/https://m.facebook.com/LedFilms/ ; https://www.instagram.com/p/BaRkjxoAJbP/
[2] Siehe hierzu auch: https://desinformemonos.org/la-semana-cambio-la-ciudad-mexico/ ; https://elpais.com/internacional/2017/09/08/actualidad/1504847379_494928.html

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