Mexiko, Zeit aufzuwachen!

von Adrian Scholz Alvarado[1]

In einem Punkt scheinen sich die meisten Menschen in Mexiko einig zu sein: Sie teilen die Meinung, dass sie im Ausland keinen guten Ruf haben und als korrupt, gewalttätig und faul wahrgenommen werden. Mit ein bisschen Glück bekommt man die Antwort, Mexiko repräsentiere vielleicht noch ein attraktives Urlaubsziel mit schönen Landschaften, Pyramiden und Stränden. Das Bild der Mexikaner_innen sei in diesem Zusammenhang dann eher von Bescheidenheit und Freundlichkeit geprägt. Bescheiden und freundlich, aber in Sachen Fortschritt dann doch nicht so ganz auf der Höhe mit Europa oder den USA. Vor allem zu Letzteren hat Mexiko eine ganz besondere Beziehung. Es gibt ein Sprichwort, das besagt: „Armes Mexiko, so weit weg von Gott und so nah an den USA“. Die geographische Nähe zu dem nordamerikanischen Nachbarland wird besonders deutlich, wenn Mexiko im Ausland in Zeitungen oder in Nachrichtensendungen thematisiert wird. Die Berichterstattung erfolgt fast nie unabhängig von den Vereinigten Staaten von Amerika. Entweder es wird über Migrant_innen berichtet, die illegaler Weise in den USA leben oder über Mexikaner_innen, die versuchen dort einzuwandern, es geht um Drogenkämpfe, die an der Grenze zwischen Mexiko und den USA verlaufen oder es handelt sich um das Prestigeprojekt des aktuell 45. US-amerikanischen Präsidenten, den Bau einer Mauer zur Sicherung der nationalen Grenzen.
 Es ist schwierig, sich ein Bild von Mexiko zu machen, das nicht durch die Beziehungen zum großen Nachbarn geprägt ist. Als Deutsch-Mexikaner, der überwiegend in Berlin aufgewachsen ist, bin ich in Deutschland zwar nicht nur, aber doch auffällig häufig nach den spektakulären Gefängnisausbrüchen des bekanntesten mexikanischen Drogenbosses Joaquín “El Chapo“ Guzmán gefragt worden oder ob es gefährlich sei, seinen Urlaub in der karibischen Stadt Cancún zu verbringen. Es soll an dieser Stelle meinen Gesprächspartner_innen kein Vorwurf gemacht werden. Wie eben erwähnt, es ist nicht einfach, sich von einem Land ein differenziertes Bild zu machen, wenn es einem persönlich nicht bekannt ist. Darüber hinaus soll nicht das Argument hervorgebracht werden, dass Gewalt in Mexiko kein Problem darstellt, aber es ist eben doch nur ein Teil dessen, was das Heimatland von Künstler_innen wie Frida Kahlo und Diego Rivera ausmacht.
Anfang April dieses Jahres bin ich im Rahmen meiner Promotion für einen sechsmonatigen Forschungsaufenthalt nach Mexiko gekommen und möchte durch diesen Blog dazu beitragen, die mexikanische Bevölkerung und ihre Lebenswelten in ihrer Vielfalt darzulegen. Welche Wertewelten lassen sich in Mexiko finden? Welche Zukunftshoffnungen und -ängste teilen die Menschen hier? Wie werden aktuelle politische Debatten wahrgenommen, und welche sozialen, ökonomischen sowie technologischen Entwicklungen prägen derzeit die mexikanische Gesellschaft? Es ist nicht das Ziel, ein Bild von Mexiko einfach durch ein anderes zu ersetzen, sondern vielmehr soll das Land in seiner Diversität dargestellt und über Themen informiert werden, die normalerweise nicht ausgeführt werden, wenn über das einwohnerreichste spanischsprachige Land berichtet wird.
Bibliothek Vasconcelos
Wie die Menschen ihr Land wahrnehmen, wodurch es sich aus ihrer Perspektive auszeichnet, welche Erwartungen sie in Bezug auf die Zukunft dieses lateinamerikanischen Landes haben und ob die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ihrer Meinung nach die Beziehungen zu Mexiko negativ bzw. positiv beeinflussen wird, sind die Themen dieses ersten Blogs. Hierfür habe ich dreißig Gespräche mit Studierenden auf dem Campus der staatlichen Bibliothek Vasconcelos in Mexiko-Stadt geführt. Alle meine Gesprächspartner_innen waren zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt und gleichmäßig aufgeteilt nach Männern und Frauen. Gesellschaftlich sind die Studierenden der aufstiegsorientierten Mittelschicht und der privilegierten Oberschicht zuzuordnen. Die Hervorhebung des sozialen Hintergrunds der Befragten scheint mir insbesondere deshalb wichtig zu sein, da die mexikanische Gesellschaft in ihrer Vielfalt dargestellt werden soll und die Wahrnehmung aktueller politischer, sozialer, kultureller und ökonomischer Entwicklungen im eignen Land je nach dem eigenen sozialen Standpunkt stark variieren kann. Es wird das Ziel dieses Blogs sein, im weiteren Verlauf die Lebenswelten möglichst vieler Mexikaner_innen darstellen zu können.
Eingangs wurde bereits erläutert, wie die Menschen in Mexiko ihrer Meinung nach im Ausland wahrgenommen werden. Hinsichtlich der Frage danach, was die Studierenden selbst mit Mexiko verbinden und wie sie das Land beschreiben würden, in dem sie leben, betonen sie vor allem, dass Mexiko ein reiches Land ist, reich an Kultur, Geschichte, Traditionen, warmherzigen Menschen, Essenskultur, Landschaften und natürlichen Ressourcen. Für einen Großteil der Befragten zeichnet sich Mexiko durch fleißige Menschen aus, die bereit sind viel zu arbeiten. Den Statistiken der OECD zufolge arbeitete 2015 in Mexiko ein_e Beschäftigte_r durchschnittlich 2.246 Std. im Jahr.[2] Damit belegt Mexiko im internationalen Vergleich Platz eins. In den USA waren es im Vergleich dazu 1.790 Std. und in Deutschland waren es mit 1.371 Std. im Jahr nur etwas mehr als die Hälfte der durchschnittlich in Mexiko geleisteten Arbeitsstunden pro Beschäftigte_n. Diese Zahlen unterstreichen die langen Arbeitszeiten in Mexiko und verdeutlichen, weshalb in den geführten Gesprächen die Ansicht vertreten wird, dass die Menschen hierzulande fleißig sind. Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass die meisten der befragten Studierenden der Überzeugung sind, dass auch die in den USA lebenden Mexikaner_innen durch ihre Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur US-amerikanischen Gesellschaft leisten und die Diffamierung ihrer Landsleute im Wahlkampf Donald Trumps als ungerecht empfanden.
Aus der Sichtweise meiner Gesprächspartner_innen zeichnet sich Mexiko vor allem durch eine besondere Kultur aus, mit vielfältigen indigenen Wurzeln, durch familiäre Solidarität und die Wärme der Menschen sowie durch die interessante Geschichte des Landes. Als Persönlichkeiten, mit denen sie sich identifizieren, nennen sie Miguel Hidalgo (1753 – 1811), eine der zentralen Figuren im Unabhängigkeitskrieg gegen die spanische Monarchie, Benito Juárez (1806-1872), Präsident Mexikos von 1858 bis 1872, der insbesondere für liberale Werte einstand und Sohn zapotekischer Eltern war, Sor Juana Inés de la Cruz (1651-1695), eine mexikanische Nonne und Dichterin, die sich für die Rechte der Frauen für Bildung und Wissen einsetzte, oder die beiden Künstler_innen Frida Kahlo (1907-1954) und Diego Rivera (1886-1957). Werden die Studierenden allerdings danach gefragt, was sie derzeit als die größten Probleme erachten, mit denen die mexikanische Gesellschaft sich konfrontiert sieht, nennen sie zum Teil die Bereiche, die aus ihrer Sicht auch das Bild Mexikos im Ausland prägen: Korruption, Drogenkriminalität und fehlendes Vertrauen in die staatlichen Institutionen sowie das Misstrauen in die politische Führung. Darüber hinaus seien das wirtschaftliche Wachstum und Investitionen in die Bildung die größten aktuellen Herausforderungen. Es könnte an dieser Stelle verwundern, dass trotz derart zentraler gesellschaftlicher Probleme wie dem fehlenden Vertrauen in staatliche Institutionen und der Drogenkriminalität der Großteil der Studierenden der Zukunft Mexikos optimistisch entgegensieht. Ein wenig mehr verwundern könnte zudem die Tatsache, dass fast alle Studierenden der Meinung sind, dass die Wahl Trumps eine Chance für Mexiko darstellt. Das ist vor allem vor dem Hintergrund erstaunlich, dass 2015 ca. 74 % der mexikanischen Exporte in die USA ausgeführt wurden und Donald Trump in seinem Wahlkampf eine protektionistische Wirtschaftspolitik des America-First vertrat.[3] Es könnte erwartet werden, dass die Menschen hierzulande die Politik des US-amerikanischen Präsidenten eher mit Nervosität beobachten.
Studierende vor der Bibliothek Vasconcelos
Die Studierenden sind sich bewusst, dass Mexiko verletzlich ist, was die Beziehungen zu ihrem Nachbarn betrifft, aber sie verbinden mit der Wahl eines protektionistischen Präsidenten in den USA die Hoffnung, dass Mexiko unabhängiger wird, dass das Land sich neuorientiert, neue Handelspartner sucht, dass das Freihandelsabkommen NAFTA überarbeitet wird, welches Mexiko auch viele soziale und wirtschaftliche Nachteile beschert habe, dass Mexiko sich auf eigene Stärken besinnt und endlich beginnt, sich von den USA zu lösen. Einer der Studierenden macht dabei deutlich, dass in mexikanischen Unternehmen, die im internationalen Handel involviert sind, bezüglich der Wahl Trumps möglicherweise eine andere Stimmung vorherrscht, eine Stimmung die nervöser ist, aber er sieht in der Wahl eine Chance für Mexiko, die Chance für einen möglichen Neuanfang. Der Großteil der Befragten äußerte den Wunsch, dass sich Mexiko wirtschaftspolitisch stärker in Richtung Süden orientiert und die Beziehungen mit den anderen Ländern Lateinamerikas intensiviert werden. Zudem werden auch die Länder Europas als attraktive Handelspartner genannt. Während die meisten Studierenden mit den USA Materialismus, Konsum, Opportunismus und Macht verbinden, repräsentiert Europa für sie die Idee der Gleichheit und eine Region mit viel Kultur und Geschichte.
Einige meiner Gesprächsparter_innen gaben an, dass sie ihr individuelles Verhalten seit der US-Wahl bereits verändert hätten. Sie versuchen, lokale Produkte zu kaufen und große Einkaufszentren mit multinationalen Firmen zu vermeiden. Sie wünschen sich, dass die politische Führung sich nicht länger an dem US-amerikanischen Entwicklungsmodell orientiert, sondern dass Mexiko sich auf die eigenen Bedürfnisse und Stärken konzentriert. Ihr Zukunftsoptimismus wurzelt dabei in einer Einstellung, dass die Menschen in Mexiko über Durchhaltevermögen verfügen und historisch schon mehrfach mit schwierigen politischen, sozialen und ökonomischen Situationen konfrontiert waren, angefangen mit der Kolonialisierung, über die Unabhängigkeitskriege, den ständigen ausländischen wirtschaftlichen Interessen, die Revolution, die Verschuldungskrise oder heutzutage die gewalttätigen Auseinandersetzungen, die den Drogenhandel begleiten. Donald Trump stellt eine neue Herausforderung dar, aber dieser Präsident sei kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken, sondern vielmehr die Pflicht, für Mexiko umzudenken, oder wie es eine Studentin formuliert: „Es ist an der Zeit aufzuwachen!“

Mexiko-Stadt, 15. Mai 2017





[1] Zu meiner Person: Ich promoviere seit Oktober 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin im Studienfach Soziologie. Der vorläufige Titel meiner Promotion lautet „Habitus-Typen und Soziale Milieus in Mexiko. Eine qualitative Studie“. Als Deutsch-Mexikaner, der in beiden Ländern gelebt hat, bin ich zweisprachig aufgewachsen und habe mich schon früh für die sozialen, kulturellen und ökonomischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Mexiko interessiert. Parallel zu meiner Promotion arbeite ich als freier Mitarbeiter für das SINUS-Institut für Markt- und Sozialforschung. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem SINUS-Institut ist die Idee entstanden, einen Blog über Mexiko zu verfassen, der den Leser_innen ermöglicht, sich ein differenziertes Bild über Mexiko zu machen und mehr darüber zu erfahren, welche Themen die Menschen in diesem Land derzeit bewegen und wie aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in Mexiko wahrgenommen werden.
[2] https://stats.oecd.org/Index.aspx?DataSetCode=ANHRS
[3] http://atlas.media.mit.edu/de/profile/country/mex/#Exporte

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