Der mexikanische Elefant. Ein Gespräch über Arbeit und Leben im informellen Sektor
von Adrian Scholz Alvarado
„Chile y limón (Chili und Limette)?“ fragt mich Tomás, während er die
Mango mit routinierten Bewegungen zügig in kleine Würfel schneidet. Ich lächle
kurz, Mango war schon immer meine Lieblingsfrucht, nicke leicht mit dem Kopf
und antworte schnell „si, por favor (ja, bitte)!“ Auf seinem Wagen türmt sich
eine Vielzahl an Obst- und Gemüsesorten. Mangos, Wassermelonen, Honigmelonen,
Gurken, Karotten, Ananas und Äpfel liegen dicht nebeneinander. Durch die Farbvielfalt
überkommt mich ein wenig das Gefühl, neben einem Gemälde zu stehen. Tomás
arbeitet als Straßenhändler in Mexiko-Stadt. Sein Wagen ist ca. zwei Meter hoch
und einen Meter breit. Von Montag bis Sonntag steht er jeweils von zehn bis
siebzehn Uhr in einer kleinen Seitenstraße gleich neben einem großen
Einkaufszentrum, auf dessen Fassade die Reklame von Geschäften wie Zara, Nike oder
Mango leuchtet. Man könnte fast das Gefühl haben, in einer Einkaufsstraße in
Berlin zu sein, wären da nicht Tomás und die anderen StraßenhändlerInnen, die
dem Stadtbild ein eigenes Gesicht geben.
Von den weltweit bekannten Unternehmen, die im
Einkaufszentrum ihre Waren verkaufen, unterscheidet sich Tomás‘ Geschäft nicht
nur durch die Größe und angebotene Warenvielfalt, sondern dass er, wie die
meisten StraßenhändlerInnen in Mexiko, zum sogenannten informellen Sektor
gezählt wird, ebenso wie SchuhputzerInnen, Hausangestellte,
ZeitungsverkäuferInnen etc. Informelle Arbeit ist nicht mit illegaler Arbeit
oder Schwarzarbeit zu verwechseln. Der informelle Sektor bezeichnet vielmehr
einen vom Staat nicht eindeutig regulierten aber geduldeten Wirtschaftsbereich,
der sich beispielsweise durch das Fehlen rechtlicher Regelungen der
Arbeitsverhältnisse auszeichnet. Im öffentlichen und politischen Sprachgebrauch
in Mexiko wird der Begriff der Informalität wie selbstverständlich verwendet,
dabei ist oftmals nicht eindeutig, anhand welcher Merkmale eine Tätigkeit als
informelle oder formelle Arbeit definiert wird. Der peruanische Ökonom Hernando
de Soto soll einst das Phänomen der informellen Wirtschaft mit einem Elefanten
verglichen haben, da man möglicherweise darüber streiten könne, welches das hervorstechendste
Merkmal eines Elefanten sei (oder der Informalität), aber jede Person ihn sofort
identifizieren könne, wenn er/sie einen Elefanten sieht.[1]
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Obst- und Gemüsestand in Mexiko-Stadt |
Als ich an diesem Tag neben Tomás stehe, wird mir
bewusst, dass ich außer statistischen Schätzungen und abstrakten Definitionen
eigentlich nichts über Informalität weiß, nichts über die Arbeits- und
Lebensweise eines Großteils der mexikanischen Bevölkerung.[2]
Obwohl ich nur zwei Schritte von ihm entfernt stehe, werde ich das ungute
Gefühl nicht los, dass möglicherweise eine Welt zwischen uns liegt, dass wir
der eine für den anderen einen Elefanten darstellen. Als Tomás mir die
gewürfelte Mango in einem Plastikbecher überreicht, inzwischen in Limettensaft gebadet
und mit Chilipulver überstreut, frage ich ihn „te puedo preguntar, desde cuándo
trabajas aquí (kann ich dich fragen, seit wann du hier arbeitest)?“, er schiebt
kurz mit seinem Zeigefinger den Schirm seiner Capy hoch, die bis dahin tief in
seinem Gesicht saß und antwortet „sí, claro (ja, klar)!“. Er beginnt mir zu
erzählen, dass er vor drei Jahren damit angefangen hat, Obst und Gemüse zu
verkaufen. Ursprünglich kommt er aus Oaxaca, einem Bundesstaat im Südosten
Mexikos. Seine Familie ist dort Teil einer indigenen Gemeinde, allerdings waren
seine Eltern stark verschuldet, und es häuften sich die Vorfälle, in denen
Personen ins Dorf kamen und sie wegen ihrer ausstehenden Schulden bedrohten und
beleidigten. Als er zehn Jahre alt war, ist er schließlich mit seinem Onkel in
die USA ausgewandert, um dort zu arbeiten und die Schulden seiner Familie zu
begleichen. In den USA lernte er, als Schweißer zu arbeiten. Stolz erzählt
Tomás, dass er bis zu zwanzig Dollar die Stunde verdiente. Als er jedoch einen
Autounfall hat, wird er abgeschoben. Zurück in Mexiko entschließt er sich, in
die Hauptstadt zu ziehen, und lernt, wie man Schuhe herstellt. Hier traf er
auch seine jetzige Frau, Sol, mit ihr hat er einen Sohn, der inzwischen ein
Jahr alt ist. Das Geld, das er durch die Herstellung von Schuhen verdiente,
sparte Tomás, um seinen jetzigen Gemüse- und Obstwagen zu kaufen und
selbstständig zu sein. Sein Ziel ist es, eines Tages eine Werkstatt zu eröffnen,
um Autos zu lackieren und wieder als Schweißer zu arbeiten, gemeinsam mit
seinem Sohn.
Während er erzählt, halten immer wieder Autos vor
seinem Stand an, fahren die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite per
Knopfdruck runter und geben Bestellungen zum Mitnehmen auf. Meistens sind es
Frauen, die auf dem Weg nachhause für das Mittagessen noch etwas geschnittenes
Obst mitnehmen möchten, während ihre Kinder, die sie eben von der Schule
abgeholt haben, in ihrer Schuluniform auf der Rückbank sitzen und sich darüber
streiten, wer auf dem Handy der Mutter Pflanzen
gegen Zombies spielen darf. Ob eine Frucht besonders gut schmecken wird
oder nicht, hört Tomás beim Schneiden, wie er mir später erzählt. An einem guten
Tag verkauft er mindestens fünfzig Plastikbecher mit Obst und Gemüse. Wenn er krank
ist, springt seine Frau für ihn ein, sie kennt das Geschäft ebenso gut wie er,
aber zurzeit kümmert sie sich um ihren gemeinsamen Sohn. Die Familie ist auf
sich allein gestellt, Hilfe vom Staat erhalten sie keine und auch mit den
anderen StraßenhändlerInnen gibt es wenig Solidarität. Sein größtes Problem ist
jedoch, die Willkür der staatlichen Behörden. Zwar bezahlt Tomás für seinen
Stand eine Gebühr an die Verwaltung des Bezirkes, aber aufgrund der mangelnden
rechtlichen Anerkennung der informellen ArbeiterInnen, sei es nicht
vorherzusagen, wann die zuständigen Autoritäten entscheiden, plötzlich zusätzliches
Geld zu verlangen, bestimmte Stände zu schließen oder die StraßenhändlerInnen
dazu zu zwingen, ihre Geschäfte in andere Bereiche der Stadt zu verlagern, was
dazu führen kann, dass sie ihre Kundschaft verlieren.
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Straßenhändler in Mexiko-Stadt |
Seit fast einer Stunde unterhalten Tomás und ich
uns miteinander. Inzwischen steht die Sonne etwas tiefer, sodass der
Jacaranda-Baum, ein Baum mit glockenförmigen, purpurfarbenen Blüten, neben dem
er seinen Obst- und Gemüsewagen gestellt hat, uns etwas Schatten spendet. Seine
Frau Sol ist in der Zwischenzeit mit dem gemeinsamen Sohn zu uns gekommen und
hat sich auf einen roten Plastikstuhl neben den Stand gesetzt. Während sie und
Tomás herauszufinden versuchen, weshalb ihr kleiner Sohn, der gerade aufgewacht
ist, schlecht gelaunt ist und sich durch wiederholte Schreiattacken beklagt, kaue
ich in Gedanken vertieft auf meiner Mango herum. Das Gespräch hat mich zum
Nachdenken darüber bewegt, was es bedeutet, mit einer Arbeit im informellen
Sektor zu leben. Informelle Arbeit wird in der Regel mit sozialer Unsicherheit
in Verbindung gebracht. Wie auch im Gespräch mit Tomás deutlich wurde, besteht
Unsicherheit in Bezug darauf, ob der eigene Stand plötzlich von den Behörden geschlossen
wird oder was passiert, wenn man für längere Zeit krank wird oder im Alter
nicht mehr arbeiten kann. In ihrem Artikel über die Konturen des informellen
Sektors in Mexiko und Argentinien, spricht die Soziologin María Cristina Bayón
darüber, dass die Arbeit in diesem Sektor ihr integratives Potential verloren
hat.[3]
Arbeit steht nicht mehr für die Möglichkeit, ein besseres Leben zu erreichen
oder gar Armut zu überwinden, sondern man muss sich teilweise selbst eine
(unsichere) Arbeit erfinden, um zu überleben.[4]
Kurz gesagt: man ist arm trotz Arbeit; arm an rechtlicher Absicherung, arm an
Zukunfts- und Planungssicherheit, arm an gleichberechtigter Integration, arm an
freier Zeit und einem ausreichenden Einkommen, arm daran, sich mit anderen auf
gleicher Höhe in einer gemeinsamen Welt zu treffen.
Arm trotz
Arbeit…ist Informalität in diesem Sinne ein Problem, das nur in Mexiko
anzutreffen ist? Oder ist es inzwischen eine globale Herausforderung? Während
ich mir diese Fragen stelle, verabschiede ich mich von Tomás, um am
Einkaufszentrum entlang zur U-Bahn-Station zu laufen. Sein kleiner Sohn scheint
Hunger zu haben, und er wird ihm gleich etwas Obst zubereiten. Als ich mich
langsam entferne, denke ich auch immer wieder über Tomás‘ letzten Satz nach,
dass es in Mexiko nicht an Arbeit fehle, sondern an gut bezahlter Arbeit, die einem ein würdevolles Leben ermögliche. Kurz
bevor ich die Straßenecke erreiche und hinter dem Einkaufszentrum verschwinde, drehe
ich mich ein letztes Mal kurz um und rufe Tomás zu „cuál fruta le vas a dar de
comer a tu hijo? (welches Obst, wirst du deinem Sohn zu essen geben)?“ Tomás
lächelt kurz und antwortet: „Mango…Mango es la fruta que más le gusta a él y a
mí (Mango…Mango ist die Frucht die ihm und mir am besten schmeckt)!“ Er greift
mit Daumen und Zeigefinger den Schirm seiner Capy, zieht sie wieder tief ins
Gesicht und wendet sich seiner Arbeit zu.
Zu meiner Person: Ich promoviere seit Oktober 2016 an der
Humboldt-Universität zu Berlin im Studienfach Soziologie. Der vorläufige Titel
meiner Promotion lautet „Habitus-Typen und Soziale Milieus in Mexiko. Eine
qualitative Studie“. Als Deutsch-Mexikaner, der in beiden Ländern gelebt hat,
bin ich zweisprachig aufgewachsen und habe mich schon früh für die sozialen,
kulturellen und ökonomischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen
Deutschland und Mexiko interessiert. Parallel zu meiner Promotion arbeite ich
als freier Mitarbeiter für das SINUS-Institut für Markt- und Sozialforschung.
Im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem SINUS-Institut ist die Idee entstanden,
einen Blog über Mexiko zu verfassen, der den LeserInnen ermöglicht, sich ein
differenziertes Bild über Mexiko zu machen und mehr darüber zu erfahren, welche
Themen die Menschen in diesem Land derzeit bewegen und wie aktuelle
gesellschaftliche Entwicklungen in Mexiko wahrgenommen werden.
[1]Vgl. Negrete Prieto, Rodrigo (2011):
El concepto estadístico de informalidad y su integración bajo el esquema del Grupo
de Delhi, in: Realidad, Datos y espacio, Revista Internacional de Estadística y
Geografía, Vol. 2, Nr. 3, S. 76-95, online unter: http://www.inegi.org.mx/RDE/RDE_04/Doctos/RDE_04_opt.pdf [09.06.2017], hier: S. 77.
[2]Je
nachdem welche Kriterien verwendet werden, können die Schätzungen über die
Größe des informellen Sektors variieren. Dem mexikanischen Institut für
Statistik und Geographie (INEGI) zufolge, arbeiten bis zu 60 % der
Beschäftigten hierzulande in der informellen Wirtschaft. Siehe hierzu: Organización Internacional del
Trabajo (2014): El empleo informal en México: situación actual, políticas y desafíos,
in: Notas sobre formalización, online: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---americas/---ro-lima/documents/publication/wcms_245619.pdf [09.06.2017], hier: S. 4.
[3] Vgl.
Bayón, María Cristina (2008): Konturen des informellen Sektors in Mexiko und
Argentinien, in: Dieter Boris et al. (Hg.): Sozialstrukturen in Lateinamerika.
Ein Überblick, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 147-170, hier
S. 147.
[4] Ebd.:
S.165f.
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