Adler oder Sonne - Gedanken zum Zusammenhang von Spiel und Kultur in Zeiten neuer Medien
von Adrian Scholz Alvarado
Ich gehe ein wenig in die Hocke, als würde ich versuchen, die Balance
auf einem wackligen Surfbrett zu halten. Ich strecke den linken Arm zum Zielen
aus und halte in der rechten Hand zwischen Daumen und Zeigefinger den
Gummiabsatz eines Herrenschuhs fest, der in seiner Form einem Hufeisen ähnelt. Mein
Ziel ist es, die Münze zu treffen, die funkelnd vor mir auf dem Boden liegt. Am
besten wäre es, ich würde sie seitlich treffen, damit die Münze möglichst weit
fliegt, sodass ich es schaffe, an Ramón vorbeizuziehen, der mich an diesem
Nachmittag herausgefordert hat. Ramón
ist ein 76 Jahre alter Rentner, der den Großteil seiner freien Zeit in einem
Park im Süden von Mexiko-Stadt verbringt und den Menschen, die sich hier
aufhalten, traditionelle mexikanische Spiele beibringt. In unserem
Wettbewerb an diesem Nachmittag haben die Teilnehmenden pro Spielzug drei
Versuche, um die Münze mit geschickten Würfen bis zum Ziel zu befördern. Um zu
entscheiden, wer von uns beiden anfängt, haben wir zu Beginn eine Münze
geworfen. Auf der einen Seite der Münze ist das Wappen der mexikanischen Flagge
zu sehen, auf dem ein Adler, der mit einem Bein auf einem Kaktus steht, gegen
eine Schlange kämpft. Auf der anderen Seite steht eine Zahl, die den Wert der
Münze angibt, in diesem Fall fünf Pesos. Auf älteren mexikanischen Münzen war
auf dieser Seite eine Sonne abgebildet. Anstatt Kopf oder Zahl, wie es in
Deutschland üblich ist, fragen die Mexikaner_innen seitdem Águila o Sol, Adler oder Sonne. Ramón hatte auf Águila gesetzt und
den Münzwurf damit für sich entschieden. Während ihm im Anschluss drei Versuche
reichen, um die Münze kurz vor das Ziel zu schießen, prallt der Gummiabsatz bei
meinen beiden Versuchen bislang nur gegen den grauen Steinboden. Trotz meiner
energischen Würfe bleibt die Münze unbeeindruckt liegen. Ich bin mir sicher, an
diesem Tag im Funkeln der Münze kurz ein triumphierendes Lächeln gesehen zu
haben. Bei meinem zweiten Versuch wurde mein Reaktionsvermögen auf andere Art
und Weise auf die Probe gestellt. Ich musste ganz schnell den Kopf zur Seite
ziehen, als der Absatz nach dem Aufprall mir mit voller Wucht fast im gleichen
Winkel entgegenfliegt, wie ich ihn auf die Reise geschickt hatte. Auch mein
dritter Versuch sollte kläglich scheitern. Zwar hatte ich es endlich geschafft,
die Münze zu treffen, allerdings flog sie nur in die Höhe und nicht, wie
erwartet, in die Weite, um letztlich nach einem kurzen triumphierend oder
vielleicht auch zynisch gemeinten Tanz wieder auf derselben Stelle zur Ruhe zu
kommen.
Ramón lächelte vergnügt. Erneut war er in einem
Geschicklichkeitsspiel einem jüngeren Kontrahenten überlegen. Vor Spielbeginn hatte er sich noch darüber
beklagt, dass Videospiele am Computer, Handy oder anderen Spielkonsolen
hinderlich seien für die Kreativität, Imagination und die motorischen
Fähigkeiten der Kinder heutzutage. Im Freien dagegen seien der
Vorstellungskraft keine Grenzen gesetzt, die Kinder könnten Spiele selbst
erfinden und die Regeln untereinander aushandeln, erzählte er mir an diesem
Nachmittag. Auf diese Weise wird aus alltäglichen Gegenständen, wie einfachen Münzen
und abgebrochenen Schuhabsätzen, ein Geschicklichkeitsspiel, das
Zielgenauigkeit und Konzentration erfordert. Gerne hätte ich noch Empathie
hinzugefügt und zwar die Empathie der Münze dem Spielenden gegenüber, damit sie
sich bei drei Würfen wenigstens ein Stück weit bewegt und auch Anfängern ein
kleines Erfolgserlebnis verschafft. Früher
hatten sie kein Geld, berichtete Ramón weiter, aber viele unbebaute, freie
Flächen und viel Kreativität, um mit Freund_innen zusammenzukommen und ihre
Umgebung spielend zu erobern. Unter anderem spielten sie Balero. Der Balero besteht aus einem Holzstab, an dem über eine Schnur eine
Kugel befestigt wird (siehe Abbildung 1). Die Kugel hat an einem Ende ein Loch
und die Spielenden müssen es schaffen, dass die Kugel durch geschickte Würfe auf
den Stab fällt und sich festsetzt. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es
verschiedene Techniken, die unterschiedlich viele Punkte einbringen. Darüber
hinaus spielten sie mit dem Trompo,
einem Kreisel, den man auf der Hand zum Tanzen bringen muss, um anschließend
auf die Knie zu gehen, den Trompo auf
den Boden zu setzen, und eine Münze zu treffen, die vor einem liegt, ähnlich
wie mit dem Schuhabsatz. Schließlich baute er mit seinen Spielkamerad_innen
leidenschaftlich gerne Papalotes,
Papierdrachen, die sie anschließend in die Luft steigen ließen. Das Wort Papalote bedeutet Schmetterling und stammt
aus dem Nahuatl, der Sprache, die vor allem von den Azteken gesprochen wurde.
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| Spiel des Baleros |
Erst 1970,
als die Fußballweltmeisterschaft zum ersten Mal in Mexiko stattfand, kaufte
sich Ramón einen Fernseher. War dieses Großereignis damals ein besonderer
Anlass, um eine solche Anschaffung zu tätigen und beim Übergang Mexikos in eine
moderne Informationsgesellschaft dabei zu sein, gehören Fernseher heutzutage in
den meisten Haushalten zur Grundausstattung. Der mexikanischen
Wirtschaftszeitung El Economista
zufolge besitzen 98,3% der Haushalte hierzulande einen Fernseher.[1]
Damit zählt dieses Gerät zu den wichtigsten Kommunikationsmedien des Landes. Aber nicht nur die Kommunikationsmöglichkeiten
haben sich in den letzten Jahrzehnten durch neue Medien und technologischen Fortschritt
erheblich verändert, sondern auch die Art und Weise, wie wir miteinander
arbeiten oder spielen, also ganz allgemein unseren Alltag bewältigen. Jedes
Jahr erhebt das INEGI, das mexikanische Institut für Statistik und Geographie,
den Zugang der Bevölkerung zum Internet sowie zu den Informations- und
Kommunikationstechnologien. Demnach liegt die Anzahl der Besitzer_innen eines
Mobiltelefons derzeit bei 73,6%, und während 2001 noch 6,2% der Haushalte in
Mexiko angaben, Zugang zum Internet zu haben, waren 2015 insgesamt 39,2% und
2016 bereits 47% der Haushalte vernetzt. Dabei werden starke regionale
Unterschiede deutlich. In Mexiko-Stadt verfügen knapp 70% der Haushalte über
einen Internetzugang, im ländlich geprägten Chiapas sind es nur etwas mehr als 10%.[2]
Wird die Nutzung des Internets differenziert nach dem Alter betrachtet, wird
ersichtlich, dass insbesondere Mexikaner_innen zwischen 12 und 24 Jahren online
sind. In diesen Altersgruppen bestätigten 85% der Befragten, dass sie das
Internet für unterschiedliche Aktivitäten nutzen, hauptsächlich zum Zweck der
Kommunikation, Informationsbeschaffung oder Unterhaltung. Bei der jüngsten Altersgruppe die erhoben wurde, den 6- bis 11-Jährigen,
liegt die Zahl der Internetnutzer_innen bei 53,1% und ist damit mehr als
doppelt so hoch wie bei der ältesten Altersgruppe, den über 55-Jährigen.
Hier gaben lediglich 21,6% an, das Internet zu nutzen.[3]
Ähnlich wie in Deutschland wird der technologische
Fortschritt auch in Mexiko kontrovers diskutiert. Es gibt immer wieder
skeptische Meinungen wie die von Ramón. Aus seiner Sicht hat die Ausweitung digitaler
Medien zur Konsequenz, dass zwischenmenschliche Beziehungen abnehmen, menschliche
Nähe seltener erfahrbar wird oder der beste Freund der Kinder die Form einer
Spielkonsole annimmt, also der Mensch durch die Maschine ersetzt wird. Dem
Spielen der Kinder kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Videospiele stehen wiederholt in der Kritik,
die Kreativität von Kindern einzuschränken, sie sozial zu isolieren oder mit fertigen
Welten zu konfrontieren, beispielsweise mit vorgegeben Rollenbildern von Mann
und Frau. Es ist wichtig zu betonen, dass Spielen mehr ist als bloße
Unterhaltung oder ein einfacher Zeitvertreib. Wie der niederländische
Kulturhistoriker Johan Huizinga (1872-1945) in seinem Werk „Homo ludens – Spiel
als Ursprungsort von Kultur“ deutlich macht, ist das Spiel ein grundlegendes
Element unserer Kultur. In gewisser Weise geht es der Kultur voraus, denn nicht
nur Menschen, sondern auch Tiere spielen. Durch das Spiel lernen wir, unsere
Umgebung anzueignen, sie zu imitieren. Es gibt wohl kaum ein Kind, das nicht
das Rollenspiel Vater-Mutter-Kind ausprobiert hätte. Es ermöglicht uns, Welten
zu erschaffen und diese nicht nur zu konsumieren. Wir lernen, Regeln zu
befolgen oder neue Regeln auszuhandeln, Konflikte zu lösen und Werte zu
verinnerlichen, neue Abenteuer zu erfinden, und uns in magischen Welten zu
bewegen oder uns einfach eine Auszeit vom Berufsalltag zu gönnen. Das Spielen hilft
uns, mal kurz auf Pause zu drücken, um Zeit mit Familie und Freund_innen zu
verbringen, und an einen Ort zu kommen, an dem Stress nichts zu suchen hat,
sondern das Zusammensein Ziel und Zweck ist.[4]
Aber können Videospiele für diesen Zweck nicht ebenso förderlich sein?
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| Tisch von Ramón mit Spielzeugen wie Balero und Trompo |
Ramón ist ehrenamtlich für die Stiftung México Juega (Mexiko Spielt) tätig, die zum Ziel hat, das Recht aufs Spielen zu verteidigen und hierfür sogenannte Ludotecas (Ludotheken, Spielräume) einrichtet.[5] Dabei konzentriert sich die Stiftung vor allem auf Gesellschaftsspiele, traditionelle mexikanische Spiele, dem Erzählen von Geschichten auf der Bühne oder auch auf Rollen- und Theaterspiele. Ein paar Tage später, nachdem ich mich mit Ramón beim Tacón (Schuhabsatz) gemessen hatte, bekam ich die Möglichkeit, bei einem Theaterspiel dabei zu sein, das von Kindern und Jugendlichen im Alter von 10 bis 14 Jahren durchgeführt wurde. Eine Geschichtenerzählerin gab das zu spielende Thema vor. Ein Prinz wurde von einem Drachen entführt und die Prinzessin sollte ihn retten. Der weitere Verlauf wurde von den Kindern und Jugendlichen improvisiert. Die Geschichte endete damit, dass die Prinzessin den Prinzen zwar durch eine List befreien konnte, ihn anschließend aber abservierte und beschloss, Drachenjägerin zu werden. Der befreite Prinz kehrte nicht nach Hause zurück, sondern freundete sich stattdessen mit dem besiegten Drachen an. Gemeinsam beschlossen sie, den Wald wiederaufzubauen, der durch den Kampf zwischen der Prinzessin und dem Drachen aufgrund der Feuerattacken schwer beschädigt wurde. Im Anschluss an das Schauspiel unterhielt ich mich mit den Improvisationskünstler_innen, um sie zu fragen, welche Bedeutung das Theaterspiel sowie digitale Medien in ihrem Leben haben. Schnell wurde deutlich, dass alle täglich mit den neuen Medien in Kontakt sind. Sie alle besitzen ein eigenes Handy, teilweise auch ein Tablet oder eine Spielkonsole, haben zuhause Zugang zu einem Computer und benutzen auf ihren Smartphones mit Facebook, WhatsApp, Instagram und Snapchat mehr Anwendungen als ich. Während das Handy das Medium ist, um zu spielen und zu kommunizieren, dient der Computer der Informationsbeschaffung oder als Hilfsmittel, um Hausarbeiten zu erledigen. Dabei machten sie deutlich, dass sie diese Medien vor allem positiv bewerten, da sie ihnen ermöglichen, mit ihren Freund_innen in Kontakt zu treten oder unterhaltsame Videospiele zu spielen. Interessant war zu erfahren, dass neben den Regeln der Eltern, die Kinder und Jugendlichen selbst versuchen, sich im Umgang mit den Medien zu kontrollieren. Eine Jugendliche bemerkte kritisch, dass ihrer Meinung nach die Kommunikation über WhatsApp keiner größeren Anstrengungen bedarf, wie es zum Beispiel beim Schreiben eines Briefes der Fall ist. Sie nimmt sich gerne die Zeit, um ihren Freund_innen Briefe zu schreiben und ihnen auf diese Weise ihre Wertschätzung zu zeigen. In diesem Punkt waren sich alle meine Gesprächspartner_innen einig, dass sie lieber Zeit mit ihren Freund_innen verbringen, als zuhause alleine Xbox zu spielen. Voraussetzung hierfür sei jedoch, dass ihre Eltern die Zeit haben, um sie zum Beispiel in den Park, zum Theater oder zu den Freund_innen nach Hause zu bringen.
Die Zeit
der Eltern scheint nicht die einzige Hürde zu sein, damit die Kinder
zusammenkommen können. Wie mir mehrere Eltern berichteten, haben sie
aufgrund der Kriminalität Angst davor, ihre Kinder alleine auf der Straße
spielen zu lassen. Ebenso gibt es heutzutage in der Stadt nicht mehr viele freie
Flächen zum Spielen, wie sie noch Ramón zur Verfügung standen. Die Stiftung México Juega ist darum bemüht, Räume für
Kinder unterschiedlichen Alters und auch unterschiedlicher sozialer Klassen zu
schaffen, damit diese zusammenkommen können und im Spiel gemeinsame Regeln und
Werte schaffen. Demnächst will México
Juega damit anfangen, ihre Spielzeuge an Familien zu verleihen, sodass die
Kinder die Spiele mit nachhause nehmen können. Dadurch soll ihnen nicht nur der
Zugang zu unterschiedlichen Spielzeugen ermöglicht werden, sondern ebenso
sollen sie lernen, Spielzeuge zu teilen und auf diese aufzupassen, um sie
später auch anderen Familien zur Verfügung stellen zu können. Auf diese Weise könnte das Spiel dazu
beitragen, eine Kultur des Vertrauens und des respektvollen Umgangs zu
schaffen. Das Verleihen der Spiele,
das natürlich der Kommunikation bedarf, wird voraussichtlich größtenteils über
das Handy und den Computer organisiert werden. Am besten wäre es, erzählten
sie mir bei México Juega mit einem
Lächeln, es gäbe hierfür eine App, auf die sie zurückgreifen könnten.
Mexiko-Stadt, 03. August 2017
Zu meiner Person: Ich promoviere seit Oktober 2016 an der
Humboldt-Universität zu Berlin im Studienfach Soziologie. Der vorläufige Titel
meiner Promotion lautet „Habitus-Typen und soziale Milieus in Mexiko. Eine
qualitative Studie“. Als Deutsch-Mexikaner, der in beiden Ländern gelebt hat,
bin ich zweisprachig aufgewachsen und habe mich schon früh für die sozialen,
kulturellen und ökonomischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen
Deutschland und Mexiko interessiert. Parallel zu meiner Promotion arbeite ich
als freier Mitarbeiter für das SINUS-Institut für Markt- und Sozialforschung.
Im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem SINUS-Institut ist die Idee entstanden,
einen Blog über Mexiko zu verfassen, der es den Leser_innen ermöglicht, sich
ein differenziertes Bild über Mexiko zu machen und mehr darüber zu erfahren,
welche Themen die Menschen in diesem Land derzeit bewegen und wie aktuelle
gesellschaftliche Entwicklungen in Mexiko wahrgenommen werden.
[4] Siehe zu dem Thema Spiel und Kultur
auch: De Buen Juárez, Andrea (2014): Ludoteca: Espacio de Educación y Resistencia
en un Mundo Neoliberal, UNAM: Mexiko-Stadt.




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