Frauen im Steinbruch. Ein Neuanfang des mexikanischen Fußballs


von Adrian Scholz Alvarado


Die Suche nach einem schattigen Plätzchen war vergeblich, die Sonne stand sehr hoch an diesem Nachmittag und strahlte ungehindert auf uns herab. Irgendwie verständlich, dachte ich mir, dass in der aztekischen Mythologie der Sonnengott Huitzilopochtli gleichzeitig den Kriegsgott repräsentiert. Es gab kein Entkommen. Kein Dach und kein Baum, die uns als Schutzschild hätten nützlich sein können. Was hier für Arbeitsbedingungen geherrscht haben müssen, frage ich mich, als der Ort noch das war, was er einmal war – ein Steinbruch. Inzwischen bedeckt weiß eingerahmter, frischer grüner Rasen das einstige Grau der Steine. Der ehemalige Steinbruch hat sich in ein Fußballstadion verwandelt und bietet den Besucher_innen eine einmalige Atmosphäre. Links und rechts vom Spielfeldrand ragen immer noch riesige Steinfelsen in die Höhe, die sich vor mehr als zweitausend Jahren infolge von Ausbrüchen des inzwischen inaktiven Vulkans Xitle gebildet hatten. Oftmals überkam mich das Gefühl, nicht in einem Fußballstadion zu sein, sondern mich in einem Naturpark zu befinden. Bis in die 1990er Jahre hinein wurde aus diesem Gelände noch Gestein gewonnen, um es schließlich zu Asphalt weiterzuverarbeiten. Seitdem nutzt die mexikanische Erstligamannschaft Pumas das Areal als Stadion und Trainingsgelände, insbesondere für ihre Jugendmannschaften.[1] Von Beginn an wurde dabei darauf geachtet, die Trainingsstätten mit der natürlichen Umgebung des Steinbruchs zu verbinden. Das Wasser, das genutzt wird, um die Spielfelder zu bewässern, wird aus einem der vier Seen gewonnen, die sich auf dem Gelände befinden, und anschließend wieder recycelt.[2] In Mexiko wird dieses Spiel- und Trainingsgelände als „Cantera“ bezeichnet. Der Begriff Cantera steht im Spanischen interessanterweise sowohl für Steinbruch als auch für den Nachwuchsbereich im Sport.
La "Cantera"

Einmalig ist an diesem Tag jedoch nicht nur das Gelände, sondern auch das bevorstehende Spiel der beiden mexikanischen Traditionsvereine Pumas und Cruz Azul. Das Spiel ist in Mexiko ein echter Klassiker. Gemeinsam mit América und Chivas zählen sie zu den vier großen Fußballclubs der ersten Liga. Bei der Begegnung an diesem Tag kommt jedoch eine weitere Besonderheit hinzu. Zum ersten Mal spielen die Frauenmannschaften der beiden Clubs gegeneinander. Fast 74 Jahre nach der Gründung der aktuellen Profiliga der Männer startete im Juli 2017 die erste Saison der mexikanischen Frauenprofifußballliga.[3] Die Vereine der ersten Liga hatten sich dazu verpflichtet, jeweils eine eigene Frauenmannschaft aufzubauen. Insgesamt 16 der 18 Erstligateams hatten es bis zu Saisonbeginn geschafft, je eine Frauenmannschaft zu stellen, welche nun um den ersten Meistertitel spielen. Nur die beiden Vereine Lobos BUAP und Puebla werden es Medienberichten zufolge erst zum Beginn der Meisterschaft im Herbst 2018 schaffen, mit einer eigenen Frauenmannschaft anzutreten.[4]

Spielbeginn Pumas vs. Cruz Azul

Knapp achthundert Zuschauer_innen waren zu dem Spiel gekommen und trugen entweder das blaue Trikot des Fußballclubs Cruz Azul, das sich durch ein blaues Kreuz auf der Brust auszeichnet, oder das weiße Trikot der Pumas mit dem markanten Puma-Kopf auf der Vorderseite. Auf der Tribüne habe ich neben Romina und Katia Platz genommen, zwei leidenschaftlichen Fußballerinnen, die mich zu dem Spiel eingeladen hatten. Beide freuten sich darüber, dass endlich eine Profiliga für Frauen gegründet wurde und damit die Chance besteht, sich in diesem Metier zu entwickeln und Anerkennung zu finden. Gleichzeitig stehen sie der Liga in ihrer aktuellen Form kritisch gegenüber: „Die Clubs fokussieren sich auf Spielerinnen, die zwischen 17 – 23 Jahre alt sind,“ erzählt mir Romina, als das Spiel beginnt, während sie mit einer Hand über den Augen versucht, das blendende Licht der Sonne abzuschirmen. Genervt fügt sie hinzu: „Wahrscheinlich damit sie ihnen kein volles Gehalt zahlen müssen, da sie noch bei ihren Eltern wohnen.“ Medienberichten zufolge erhält eine Spielerin ca. 2.500 mexikanische Pesos im Monat, umgerechnet knapp 110 €.[5] Im Vergleich zu den schwindelerregenden Summen, die jedes Jahr in den Transferperioden in den Profiligen der Männer gezahlt werden und in den Medien Schlagzeilen machen, sind 110 € im Monat nicht einmal ein Trostpreis.
Wie schwer es ist, als Frau im Fußball Anerkennung zu finden, hat Romina von frühester Kindheit an erfahren. Ähnlich wie ihr Bruder wollte sie von klein auf Fußballspielen. Anders als bei ihrem Bruder unterstützen ihre Eltern ihren Wunsch jedoch nicht, sondern warteten darauf, dass ihr die Lust am Spiel wieder vergehen würde. Erst als sie die Sekundarstufe erreichte und die Schule wechselte, konnten ihre Eltern ihr den Wunsch nicht mehr verweigern, da auf ihrer neuen Schule eine Frauenfußballmannschaft trainierte und sie sich nachdem Unterricht direkt dem Training anschließen konnte. Ihr damaliger Trainer motivierte sie, mit dem Fußball weiterzumachen. Romina ist schnell, technisch stark und spielte am liebsten auf dem linken Flügel. Nach der Sekundarstufe spielte sie für diverse Frauenmannschaften im Amateurbereich und machte wiederholt die Erfahrung, als Fußballerin diskriminiert zu werden: Platzwarte die nicht auftauchten, um die Umkleidekabinen aufzuschließen, da sie die Spiele der Frauen als nicht wichtig erachteten, Lehrer die ihnen vorwarfen, dass ein Fußballplatz kein Ort für eine Frau sei, oder auch Freunde und Bekannte, die von der Seitenlinie riefen, dass Frauen in die Küche gehören. Die Liste alltäglicher Diskriminierungserfahrungen ist lang. Wenn sie mal wieder gar keinen Fußballplatz zur Verfügung gestellt bekamen, spielten sie auf den Parkplätzen vor der Sportanlage, um die Vorstände und Mitarbeiter der Vereine beim Einparken ihrer Autos zu stören und dadurch auf sich aufmerksam zu machen. Den Fußball aufzugeben, kam für sie während dieser Zeit allerdings nie in Frage. „Wenn ich spiele, dann bin ich, ich selbst“ hatte mir Romina mit einer Überzeugung erzählt, die ansteckend war.   

Das Team von Cruz Azul im Angriff

An diesem Tag jedoch sind viele Fans ins Stadion gekommen, um ihre Mannschaft lauthals zu unterstützen, und die zweiundzwanzig Frauen auf dem Platz kämpfen, um ihren Anhänger_innen einen Sieg zu schenken. Pumas ist die deutlich überlegenere Mannschaft und führt bereits zur Halbzeit mit zwei zu null. Die Fans bedanken sich für jedes Tor ihrer Spielerinnen mit euphorischen Gesängen. Angesichts der Begeisterung des Publikums muss ich an den Satz von Romina denken, den sie mir erzählte, als sie von ihren Diskriminierungserfahrungen berichtete: „Wenn die Menschen erst einmal ein Frauenfußballspiel gesehen haben, dann bauen sie ihre Vorurteile ab.“ Auch für den berühmten mexikanischen Schriftsteller, Journalisten und Fußballfan Juan Villoro steht fest, dass „wenn jemand einen sauberen, ehrlichen, aufrichtigen Fußball sehen will, dann muss er_sie anfangen, sich für Frauenfußball zu interessieren.“[6] Ehrlich und aufrichtig, so fühlt sich das Spiel an diesem Tag auch als Zuschauer an. Es geht um Fußball, das Recht zu spielen und auch um die Möglichkeit, dass die Spielerinnen eines Tages davon ihren Lebensunterhalt bestreiten können und Anerkennung finden.
Gleichzeitig dauert es nicht lange, bis die Fans sich nicht nur durch euphorische Gesänge bemerkbar machen, sondern ebenso durch Beleidigungen der Spielerinnen der gegnerischen Mannschaft. Als ein Anhänger im Stadion eine Spielerin wiederholt als „Sau“ beschimpft, frage ich Katia, „würdest du dir wünschen, dass der Frauenfußball sich in bestimmten Aspekten vom Profifußball der Männer unterscheidet?“ Katia nickt und antwortet bestimmt: „Auf jeden Fall, ich würde mir wünschen, dass die Spielerinnen sich besser organisieren, um ihre Rechte zu verteidigen. Fußballer sind zum Spielball der großen Vereine geworden. Die können mit denen machen, was sie wollen. Ich hoffe, die Frauen werden sich stärker für ihre Rechte einsetzen, um nicht als Dinge, sondern als Personen behandelt zu werden.“
Katia hat mit elf Jahren begonnen, Fußball zu spielen. Ausschlaggebend war ein Besuch im größten Stadion Mexikos, dem Azteken-Stadion. Als sie erfuhr, dass die mexikanische Frauennationalmannschaft dort ein Länderspiel austragen würde, griff sie sofort zum Telefon, um für sich und ihre Familie Eintrittskarten zu reservieren. Nach dem Spiel war für Katia klar, dass sie Fußballerin werden wollte. Anders als bei Romina unterstützen ihre Eltern sie bei ihrem Traum. Ihre Mutter hatte eine Bekannte, die bei dem Fußballclub Andrea‘s Soccer arbeitete. Der Club nimmt bei der Entwicklung des mexikanischen Frauenfußballs eine Vorreiterrolle ein und hatte bei der Namensgebung die zu dem Zeitpunkt wohl bekannteste mexikanische Fußballerin, Andrea Rodebaugh, zum Vorbild. Bei Andrea‘s Soccer nahm Katia an verschiedenen Kursen während der Sommerferien teil, um Fußballspielen zu können. Als sie in der Schule auf die Oberstufe wechselte, begann sie gleichzeitig für das Frauenteam der staatlichen Universität UNAM zu spielen. Es dauerte nicht lange, bis sie aufgrund ihres Talentes zum Training mit der Nationalmannschaft berufen wurde. Zu diesem Zeitpunkt begannen ihre Trainingszeiten zunehmend mit ihren Schulzeiten in Konflikt zu geraten. Katia merkte, dass sie sich entscheiden musste zwischen einer Laufbahn im Fußball oder dem Abschluss der Oberstufe. Lange Zeit hoffte sie, dass es für sie als Fußballerin ähnlich werden würde wie für ihre männlichen Kollegen, bis ihr endgültig klar wird, dass sie von diesem Sport als Frau nicht leben kann. Sie entschied sich für die Schule und meldete sich aus der Nationalmannschaft ab.

Pumas im Spielaufbau

Das Spiel zwischen Pumas und Cruz Azul endet an diesem Tag mit vier zu eins für die Heimmannschaft. Die Spielerinnen verabschieden sich nach dem Abpfiff des Spiels von ihren Fans auf der Tribüne und rufen ihnen mit erhobener Faust den klassischen Schlachtruf der Pumas zu „Goya – Goya – Cachun – Cachun - Ra Ra – Cachun – Cachun – Ra Ra – Goya – Universidad“.[7] Der Weg raus aus dem Stadion führt durch einen langen, dunklen Tunnel, der einmal mehr daran erinnert, dass das Gelände früher als Steinbruch diente. Auf dem Weg nach draußen unterhalte ich mich mit Katia und Romina über das Spiel: „Weißt du, es ist nicht immer einfach, auch wenn ich mich freue, den jüngeren Spielerinnen bei ihren Partien zu zuschauen,“ sagt Romina, während sie mit den Augen auf den Boden schaut, als würde sie etwas suchen, „ich hätte gerne in ihrem Alter auch die Gelegenheit gehabt, in der Profiliga zu spielen“. Katia stimmt ihr sofort zu und ergänzt: „Ich hoffe nur, dass sie nie vergessen, wie schwer es war, dass Frauenfußball anerkannt wurde, dass die Vereine im Profifußball uns ernst nehmen und eine eigene Profiliga für Frauen errichten. Das hat die mexikanischen Fußballvereine kalt erwischt, das haben sie nicht geplant, sondern auf Druck der FIFA hin umgesetzt, weil Menschenrechte zurzeit in Mode sind.
Weil Menschenrechte zurzeit in Mode sind…dieser zynisch gemeinte Satz von Katia lässt mich an diesem Tag auch lange nach dem Ende des Spiels nicht mehr los. Bereits als Kind habe ich leidenschaftlich gern Fußball gespielt und gemeinsam mit meinem Bruder stundenlang unserer Kreativität freien Lauf gelassen, wenn wir ganze Fußballmannschaften aus Papier bauten mit ihren eigenen Trikots und Spielregeln. Die Erfahrung, von Platzwarten ignoriert oder von Lehrern kritisiert, also für die Ausübung dieses Sports diskriminiert zu werden, musste ich dabei nie machen. Im Vergleich zu mir hatten Katia und Romina das Talent, im Fußball erfolgreich zu sein, aber diese Möglichkeit bestand für sie nicht. Beide arbeiten inzwischen in ihrer Freizeit als Trainerinnen für verschiedene Amateurmannschaften und trainieren sowohl Männer als auch Frauen. Auf diese Weise wollen beide dazu beitragen, dass Frauen in den Sport integriert werden und ihnen eine Plattform geboten wird, auf der sie Anerkennung finden. Dabei betont Romina, dass ihr wichtig sei, „dass die Menschen nicht davon ausgehen, dass Frauenfußball exakt gleich ist wie der Profifußball der Männer, sondern dass dieser Sport anders ist, sein eigenes Wesen hat.“ Ein Stück des Wesens dieses Sportes sowie seiner Geschichte hatten mir Romina und Katia an diesem Nachmittag nähergebracht. Es war in jedem ihrer Sätze zu spüren: die Solidarität zwischen den Spielerinnen, die sich in ihrem langen Kampf um Anerkennung herausgebildet hatte. Ein Kampf der bereits da war, bevor Menschenrechte in Mode gekommen waren. Ein Stück dieses Wesens war auch zu jederzeit an diesem Nachmittag im Stadion zu spüren. Es war das erste Spiel, an das ich mich erinnerte, bei dem ich das Gefühl hatte, dass alle auf dem Platz bereits mit dem Anpfiff gewonnen hatten. Trotz eines Siegerteams nach Punkten gab es keine Verliererinnen. Die Spielerinnen in Mexiko – ihr Fußball - hatten gewonnen, und die Zuschauer_innen durften daran teilnehmen, um eine neue Erfahrung im mexikanischen Fußball zu sammeln. Es bleibt zu hoffen, dass die Spielerinnen den gemeinsamen Kampf um ihre Sportart nicht vergessen und allen zeigen, dass es im Fußball nicht nur um Wettbewerb, sondern auch um Solidarität geht.

Die Spielerinnen von Pumas verabschieden sich von ihren Fans

Mexiko-Stadt, 13. Februar 2018

Zu meiner Person: Ich promoviere seit Oktober 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin im Studienfach Soziologie. Der vorläufige Titel meiner Promotion lautet „Habitus-Typen und soziale Milieus in Mexiko. Eine qualitative Studie“. Als Deutsch-Mexikaner, der in beiden Ländern gelebt hat, bin ich zweisprachig aufgewachsen und habe mich schon früh für die sozialen, kulturellen und ökonomischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Mexiko interessiert. Parallel zu meiner Promotion arbeite ich als freier Mitarbeiter für das SINUS-Institut für Markt- und Sozialforschung. Im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem SINUS-Institut ist die Idee entstanden, einen Blog über Mexiko zu verfassen, der es den Leser_innen ermöglicht, sich ein differenziertes Bild über Mexiko zu machen und mehr darüber zu erfahren, welche Themen die Menschen in diesem Land derzeit bewegen und wie aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in Mexiko wahrgenommen werden.



[1] Die Profimannschaft der Herren spielt im Estadio Olímpico Universitario, dass sich auf dem Gelände der größten staatlichen Universität Mexikos befindet, der UNAM. Pumas wurde ehemals als Profimannschaft dieser Universität gegründet.
[3] In Mexiko werden pro Jahr zwei Meisterschaften ausgetragen. Was im europäischen Fußball als Hin- und Rückrunde bekannt ist, stellt in Mexiko jeweils eine eigene Meisterschaft dar. Nachdem alle 18 Mannschaften in einer Saison einmal gegeneinander gespielt haben, qualifizieren sich die besten 8 Teams für die „Liguilla“ (Playoffs). Im K.O.-System spielen diese Mannschaften dann um den Meistertitel. 
[4] http://campodeportivo.mx/puebla-y-lobos-no-tendran-equipo-femenil/
[5] http://www.excelsior.com.mx/adrenalina/2017/07/27/1178239
[7] Der Schlachtruf basiert auf erfunden Wörtern, die im Spanischen keine Bedeutung haben, und kann deshalb auch nicht übersetzt werden bis auf das letzte Wort Universidad, das für Universität steht. Zur Geschichte des Schlachtrufes siehe auch: http://www.fundacionunam.org.mx/cancha-puma/goya-la-historia-del-grito-universitario/


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